Fotografische Grenzgänge

Stell dir einmal vor zwölf afrikanische Fotografen fotografieren jede Ecke deiner Wohnung, fragt mich Alfred Holzbrecher. Ein Gespräch über Chancen und was nicht (mehr) geht in der Reisefotografie.

Blickt man auf Instagram, dann hat man den Eindruck, dass sich Reisefotos immer mehr angleichen. Wieso fotografieren wir Motive so, wie wir sie schon gesehen haben?
Alfred Holzbrecher: Das ist vor allem bei Jugendlichen sicher der Gruppendruck: Man möchte fotografieren wie die anderen, und doch möchte man fotografieren wie kein anderer. Ich denke, dass jeder anfangs imitiert, um sich dann hoffentlich davon zu emanzipieren und kreativ eine eigene Perspektive zu entwickeln.

Fotografieren wir in der Fremde anders?
Jeder nimmt die Welt auf seine eigene Weise wahr, hat also eine „Brille“ auf. Diese Brille ist biografisch und kulturell eingefärbt. In der Fremde funktionieren unsere alltäglichen Wahrnehmungsmuster nicht mehr. Da kommt es zu Irritationen. Ich kann jetzt einerseits mein Wahrnehmungsmuster der neuen Realität anpassen, kann sagen, alles ist relativ und meine Sichtweise nicht die einzig Richtige. Oder ich neige zu Überlegenheitsgefühlen bis hin zu rassistischen Einstellungen. Das sind innere Bilder, die sich im Laufe meiner Biografie verfestigt haben. Diese inneren Bilder haben viel mit Erfahrungen von Autonomie oder von Ohnmacht zu tun. Sie bestimmen in jedem Kontakt mit Anderen meine Wahrnehmung. Wer sich selbst als Opfer undurchsichtiger Verhältnisse wahrnimmt, kann Fremden nicht auf Augenhöhe begegnen. Ich werte den Anderen ab, um mein Selbstbild zu schützen.

Fischerinnen Portugal (c) Holzbrecher
Manchmal verlangt die Situation ein Teleobjektiv, sagt Holzbrecher. Wie das Foto dieser Fischerinnen an einem Strand im portugiesischen Nazaré. © Alfred Holzbrecher

Was unterscheidet Touristen mit Fotokameras von den ethnologischen Fotografen des 19.Jahrhunderts, die mit ihren Kameras geradezu Jagd auf das „Exotische“ machten?
Die ethnologische Fotografie war Kind ihrer Zeit, sie war von kolonialistischen Wahrnehmungsmustern geprägt, man bemächtigte sich der Fremden durch Vermessung und Katalogisierung. Eine fotografische Aneignung der Fremde erfolgt heute sicher anders.

Die Lust am Exotischen ist menschlich

Aber die Lust am Exotischen und manchmal auch Erotischen, am Entdecken, an Träumen von einer anderen Welt, an Fluchten aus unserem überzivilisierten Alltag, diese Bedürfnisse sind menschlich, sie gab und gibt es zu allen Zeiten. Natürlich kann und muss ich mich ihnen und ihren Auswüchsen ideologiekritisch nähern. Aber auf das Fotografieren auf Reisen völlig zu verzichten, hieße das Kind mit dem Bade auszuschütten. Mich reizt dagegen, sich der Widersprüchlichkeit der Situation bewusst zu sein und nach Möglichkeiten zu suchen, wie die Kamera zu einem Mittel der interkulturellen Kontaktaufnahme werden kann.

Wann schafft eine Kamera Distanz?
Grundsätzlich ist die Frage, wie vertraut Menschen mit der Kamera und mit Fotografiersituationen sind. Klar ist, dass in islamisch geprägten Gesellschaften Fotos eine völlig andere Bedeutung haben als im mitteleuropäischen Raum. Manche Ureinwohner-Gesellschaften glauben, dass ein Foto die Seele rauben kann und reagieren mit Angst und Aggression. Eine Kamera erzeugt Distanz, wenn die Fotografierten das Gefühl haben, zum Objekt gemacht zu werden.

Wann ist es Ihnen gelungen über Fotografie in Kontakt zu treten?
Es gibt unterschiedliche Formen des In-Kontakt-Tretens, ob vor oder auch nach dem Foto, vom freundlichen Zuzwinkern danach bis zur förmlichen Frage vorher. In einer chilenischen Hafenstadt wollte ich unbedingt einen Fischer fotografieren. Er hatte riesige Meerestiere gefischt und an seinem Stand angeboten. Ich fragte ihn, ob ich Fotos machen könne, er bejahte. Ich merkte, wie er sich und seine Arbeit wertgeschätzt fühlte. Für mich war das eine Schlüsselerfahrung: Weniger mit großem Teleobjektiv aus dem Hintergrund ein Foto schießen, lieber mit einem freundlichen Lächeln Kontakt herstellen. Besser noch, ins Gespräch kommen, wenn man die Landessprache einigermaßen beherrscht.


Indígena und Tochter Arquequipa 1 (c) Holzbrecher
„In Arequipa lernten wir im Hof eines Textilgeschäfts eine Indígena kennen. Ihre Tochter schmiegte sich zuerst an sie und machte dann ein paar Tanzschritte.
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Ich sagte: „Du kannst aber schön tanzen!“. Das motivierte sie offenbar zu einem wirklichen Tanz.
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Sie war sichtlich stolz als wir sie dabei fotografierten – und uns anschließend bei ihr und der Mutter bedankten.“ © Alfred Holzbrecher

Wann ist es Ihnen nicht gelungen?
Sehr selten hat jemand abgelehnt, und wenn, dann war dieser Wunsch selbstverständlich zu respektieren. So saßen wir, eine kleine Gruppe von fünf Personen, bei einer Reise in ein kleines, vom Tourismus unberührtes chilenisches Dorf im Andenhochland in der dunklen Küche einer älteren Indígena. Sie bereitete ein Fleischgericht aus Lama vor und schnitt Stücke aus der Keule. Auf meine Frage hin, ob wir fotografieren dürften, schüttelte sie mit dem Kopf. Wir saßen etwa eine halbe Stunde schweigend neben ihr, ihre langsamen Handgriffe hatten etwas Archaisches, es war eine so intensive, fast sakrale Situation. Diese hat sich in meine Erinnerung eingebrannt, ein Foto bräuchte ich nicht mehr.

Was sind Tabus der Reisefotografie?
Reisefotografie passiert im interkulturellen Raum und ist damit immer ein Agieren an Grenzen. Diese sollte man berücksichtigen, egal, ob man fotografiert oder nicht. Verletzt man die Grenzen, ruft das bei den Betroffenen zu Recht Ärger und Wut hervor. Tabu ist, den Anderen durch das Fotografieren zu erniedrigen. Menschen in Armut werden sich vermutlich noch elender wahrnehmen, wenn ich sie fotografiere. Vor allem, wenn sie ohne Einverständnis abgelichtet werden und sie sich als Objekte des Fotografen fühlen müssen. 

Die Grenzen der Reisefotografie verändern sich

Kunst war und ist jedoch immer auch Grenzüberschreitung und Provokation, um auf gesellschaftliche Entwicklungen aufmerksam zu machen. Daher verändern sich auch die Grenzen in der Reisefotografie. Das geschieht analog zu gesellschaftlichen Entwicklungen etwa im Bereich Social Media. Solche ästhetischen und ethischen Grenzen sollte man bewusst wahrnehmen und reflektieren.

Fotografieren wir anders, wenn wir mit einer Reisegruppe unterwegs sind?
Bei einer Gruppenreise in Kuba habe ich selbst im Schutz der Gruppe hemmungsloser fotografiert. Der Reiseleiter hat den Kontakt hergestellt und wir konnten die Kameras zücken. Diese Situationen schätze ich im Rückblick als negativ ein.

Stell dir vor, zwölf afrikanische Fotografen fotografieren jede Ecke deiner Wohnung

Einmal besuchten wir eine arme Familie in ihrem Zuhause und eine Teilnehmerin fotografierte wie wild alle Ecken der Wohnung. Man muss sich nur einmal vorstellen, dass eine zwölfköpfige Gruppe afrikanischer Fotografen in deine Wohnung einfällt und alle fotografieren wie wild alle Zimmer. Ich habe keine Fotos von dieser Situation, es ging einfach nicht!

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Manchmal ist Kontaktaufnahme nicht möglich. Etwa, wenn man in einem fahrenden Auto fotografiert, wie bei diesem Foto das in Kuba entstand. © Alfred Holzbrecher

Der Fotograf Martin Rohrmann sagte in einem Interview, es sei ideal, wenn die Person, die man fotografiert, einen nicht bemerkt und man in Ruhe seine Fotos machen kann. Ist das respektlos?
Die Frage ist, was ich mit meinem Foto mache. Respektlos wäre sicher, eine Person unvorteilhaft zu fotografieren und sie durch eine Veröffentlichung bloßzustellen. Aber um so etwas zu verhindern, gibt es ja Gesetze. Wenn grundsätzlich respektlos wäre, eine andere Person unbemerkt zu fotografieren, wäre ein Genre wie die Streetfotografie nicht mehr möglich. 
Fotografieren macht den Anderen immer zum Objekt. Andererseits kommt es auf die Qualität des Kontakts an, mit dem man zum Ausdruck bringt, ob man den Anderen wertschätzt. Oder aber ob man sich über ihn erhebt, ihn zum Objekt macht und ihn in seiner Situation fixiert. Ich beschäftige mich im Moment stark mit der Streetfotografie, die ja davon lebt, dass Menschen in ungewöhnlichen Alltagssituationen fotografiert werden. In der Tat ist es eine Gratwanderung, aber genau das reizt mich.


Zur Person: Dr. Alfred Holzbrecher ist emeritierter Professor für Schulpädagogik, Interkulturelle Pädagogik und Medienpädagogik. Im Zuge zahlreicher Reisen vor allem nach Lateinamerika begann er, sich intensiv mit Fotografie auseinanderzusetzen. In seinem Blog „Reisefotografie Interkulturell“ beleuchtet er interkulturelle Aspekte des Fotografierens auf Reisen. 

 

Anmerkung: Das Interview wurde in der Frühjahrsausgabe 2020 des Globetrotter Reisemagazins veröffentlicht.

2 Kommentare zu „Fotografische Grenzgänge

  1. Hallo Laura
    Vielen Dank für diesen Artikel. Er ist sehr interessant zu lesen. Ich habe mir selber schon viele Gedanken über das Fotografieren von Personen gemacht und finde es wichtig, die Menschen zu respektieren und auch zu fragen, ob sie einverstanden sind, fotografiert zu werden. Ich finde es wichtig, die Menschen aufmerksam zu machen.

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    1. Hallo Simon! Danke für deinen Dank! Ich freue mich, dass das Thema auch anderen wichtig erscheint. Es ist wirklich vielschichtig und die Diskussion könnte man aus ethischen, rechtlichen und noch vielen anderen Gesichtspunkten führen!
      Falls es dich interessiert, der Text behandelt ähnliche Fragen:
      http://bit.ly/2Pr3Lkx

      Alles Liebe!
      Laura

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